Rückschau 2017
Franz Jung: Der Weg nach unten
(Donnerstag, 16. November 2017, Einführung Wolfgang Bortlik). Die
Herausgeberin und Verlegerin Hanna Mittelstädt und die Schauspielerin
Iris Boss lesen vor dem Hintergrund eines aus historischen Aufnahmen und
Fotos montierten Films und begleitet von kurzen Musikpassagen eine
Collage aus 15 Texten, die alle der Autobiographie des
expressionistisch-dadaistischen Dichters, Kommunisten, Börsenmaklers und
Schiffsentführers Franz Jung (1888-1963) entnommen sind. Der Weg nach
unten, auch unter dem Titel Der Torpedokäfer bekannt, ist einWerk, in
dem vor allem die dramatischen 1920er Jahre ausserordentlich präsent
sind.
Es war ein eindrücklicher Abend, der das Leben des Franz
Jung schlaglichtartig Revue passieren liess. Ein Lebensrückblick in
Szenen – grossartig geschilderten Szenen von grosser Sprachkraft und
hoher Intensität. Grossartig vorgetragen … stimmungsvoll illustriert mit
Bild und Ton.
(Rolf Spriessler, RZ, 24. 11. 2017)
Lukas Holliger (Donnerstag, 2. November
2017, Moderation Valentin Herzog) liest aus seinem im Frühjahr
erschienenen Roman-Erstling "Das kürzere Leben des Klaus Halm". Er
entwirft in 93 pointierten Kapiteln – eher: Szenen; man merkt dass der
Autor vom Theater kommt – ein schräges Bild des Lebens in Basel: Da gibt
es einen arbeitslosen Filmvorführer als Ich-Erzähler, den glücklosen
Papeteriebesitzer Klaus Halm, seine belesene Gattin Viola und eine
Französischlehrerin mit unzerstörbarem Lächeln. Die Schauplätze in Basel
und Huningue sind dabei ebenso präsent wie die vielen Randfiguren.
Holligers Geschichte ist fesselnd, witzig und voller
Abgründe. Und wer am Anfang einen ziemlich coolen und abgeklärten Stil
feststellte, wurde in der zweiten Passage von einem sehr liebevollen Ton
verblüfft. (Michèle Faller, RZ 10. 11. 17)
In wechselnden Erzählperspektiven und verschiedenen
Handlungssträngen verwebt der Autor immer dichter, verwirrender und
unheimlicher das Geschehen um die beiden Männer, spielt raffiniert mit
Elementen des Doppelgänger- und Wiedergänger-Motivs.
(Roswitha Frey, Badische Zeitung, 4. 11. 2017)
Pedro Lenz (Donnerstag, 19. Oktober 2017,
Moderation Wolfgang Bortlik) stellt seinen im vergangenen Jahr
erschienenen Dialekt-Roman "Di schöni Fanny" vor. Schauplatz ist Olten:
Hauptpersonen sind zwei Maler und ein gewisser Frank Gobeur, alias
Jackpot, der sich Schriftsteller nennt. Die beiden Maler heissen Louis
und Grunz, sie lieben das Leben und die Schönheit. Dann tritt die schöne
Fanny in ihr Leben und bringt alleine durch ihre Präsenz das scheinbar
stabile Gleichgewicht dieser Männerfreundschaft ins Wanken. Pedro Lenz
zu hören verspricht Genuss! Deshalb war das Kellertheater auch bis zum
allerletzten Platz besetzt.
Pedro Lenz ist ein aufmerksamer Beobachter – die beiden
in die Jahre gekommenen Kunstmaler, bei denen Jackpot ein- und ausgeht,
haben reale Vorbilder … und er versteht es, Gewohnheiten zu karikieren –
zum Beispiel im von ständige Grüssen begleiteten Spaziergang zweier
Freunde der Aare entlang, ein Höhepunkt des Abends.
(Rolf Spriessler, RZ 27. 10. 2017)
Verena Stössinger (Donnerstag, 21.
September 2017. Moderation Katja Fusek) stellt ihren neuen Roman "Die
Gespenstersammlerin" vor: Die 42jährige Literaturwissenschaftlerin
Astrid will ein halbes Jahr auf einer kargen nördlichen Insel verbringen
und sich mit den Mythen und Sagen dieser Welt befassen. Dabei geraten
ihr auch die Gewissheiten über ihre eigene bürgerliche Welt ins Wanken.
Seltsame, oft unheimliche Geschichten sowie das raue Wetter und die
unwirtliche Insellandschaft prägen die Atmosphäre des Romans.
Als die Veranstaltung nach eineinhalb Stunden zu Ende
ging, blieb der erfreuliche Eindruck, man habe nicht nur faszinierende
Passagen aus einem eigenwilligen Roman gehört, sondern sei auch Zeuge
eines höchst angeregten Gesprächs zwischen zwei Schriftstellerinnen
geworden, die einander viel zu sagen und zu fragen haben.
(Valentin Herzog, RZ 29. 9. 17)
Regula Wenger und Yves Rechsteiner
(Donnerstag, 31. August 2017, Saisoneröffnung, moderiert von Valentin
Herzog) lesen neue, unveröffentlichte Texte. Beide hatten sich
vergangenes Jahr am ARENA-Wettbewerb beteiligt. Regula Wenger liest drei
Passagen aus einem Roman, an dem sie derzeit arbeitet und in dem es um
eine etwas zwiespältige Figur namens Lenz geht, der unter anderem einst
ein Klassenzimmer in Brand gesetzt, dann aber einen völlig verängstigten
Kameraden gerettet hat. Yves Rechsteiner dagegen las eine
abgeschlossene Erzählung von einem finsteren Mann, der in einem
Volksfestzelt seinen Gesprächspartner mit zunehmend sadistischen
Phantasien ängstigt.
[Regula Wengers] Romangerüst lässt Grosses erwarten …
Rechsteiners Literatur orientiert sich sehr stark am gesprochenen Wort.
Eine Qualität, die den besonderen Reiz seiner Sprache ausmacht.
(Rolf Spriessler, RZ, 8. 9. 2017)
Wolfgang Bortlik (Dienstag, 13. Juni 2017,
Einführung Beat Baltensperger) liest Passagen aus seinem neuen
Kriminalroman Blutrhein und singt, begleitet von Gogo Frei auf der
Gitarre, einige dazu gehörende Lieder. Es geht in dem höchst spannenden
Roman um eine rätselhafte Mordserie, die schliesslich durch den schon
aus früheren Büchern Bortliks bekannten Amateurdetektiv Melchior Fischer
aufgeklärt wird. Bortlik versteht es nicht nur, einen spannenden Plot
zu erfinden – er zeichnet auch die Stadt Basel und ihre manchmal etwas
skurrilen Bewohner mit satirischer Frische.
Bortlik zeichnet ein überzeichnetes Bild der Chemiestadt
Basel, hinterfragt ganz beuläufug und durchaus mit einer Prise
Boshaftigkeit undSarkasmus … das gesellschaftliche, kulturelle und
politische Leben der Stadt …
(Rolf Spriessler, RZ 16. 6. 2017)
Dina Sikirić (Dienstag, 23. Mai 2017,
Einführung Nicole Hausammann) liest aus ihrem autobiographischen
Kindheitsroman Was den Fluss bewegt. Langjährige Bühnenerfahrung trägt
dazu bei, dass die literarisch nicht immer ganz klar gestalteten, nach
Aussage der Autorin aber fiktionsfrei wiedergegebenen
Kindheitserinnerungen das Publikum in ihren Bann ziehen. Als Fünfjährige
ist sie 1960 mit ihrer Mutter in die Schweiz gekommen und hier zunächst
in einem katholischen, später im bürgerlichen Waisenhaus untergebracht
worden. Schmerzliche Erfahrungen des Ausgegrenztseins als "Heidin"
(Muslima, die Familie stammt aus Bosnien) wechseln mit sehnsuchtsvollen
Erinnerungen an die alte Heimat, an die Grosseltern, an den Vater.
Es waren Schlüsselerlebnisse, die sich bei dem frisch
eingewanderten Mädchen einprägten. Stark beschreibt sie etwa den
Eintritt in ein von Nonnen geführtes Kinderheim, als ihr ein schwarzer
Hund vor den Toren schon als Omen begegnet.
(Michel Schultheiss, RZ, 26. 5. 17)
Rudolf Bussmann (Donnerstag, 27. April
2017, Einführung Valentin Herzog) präsentiert seinen neuen Roman Das
andere Du, der von einer Internet- Beziehung erzählt, deren
Protagonisten Alexis (Student, dann Übersetzer, dann Frau eines
bekannten Journalisten) und Melanie (Männerheldin, alleinerziehende
Mutter, zuletzt Sans-Papiers) sich in Liebeserklärungen, Gehässigkeiten,
Flunkereien und Bekenntnissen ergehen, bis der Leser zuletzt daran
zweifelt, dass es überhaupt zwei Personen gegeben hat. Bussmann spielt
gekonnt mit den Möglichkeiten einer solchen anonymen Beziehung und liest
Passagen seines Buches, die den Zuhörer in (kalkulierter?) Ratlosigkeit
zurücklassen.
Und so bleibt der Abend – wie das Buch in seiner Lesart –
in seiner Hörart offen. War es nun ein Seminar über die
Unverbindlichkeit des gegenseitigen persönlichen Austauschs im heutigen
Internet?
(Rolf Spriessler, RZ 5. 5. 17)
Rolf Hermann (Donnerstag, 16. März 2017,
Einführung Wolfgang Bortlik – im Kaleidoskop) liest pointenreiche Kurz-
und Kürzestgeschichten aus seinem eben erschienenen Buch Das Leben ist
ein Steilhang. Dabei zeichnet er Situationen und Figuren aus dem
deutschsprachigen Teil des Wallis mit hintergründigem Humor. Hermann
artikuliert den schwierigen Walliser Dialekt so präzise und genau, dass
die an sich vorgesehene Übersetzung ins Schriftdeutsche entfallen kann.
Ein heiter-erfreulicher Abend, der allerdigs dadurch überschattet wird,
dass Edith Lohner, die ihn organisiert hat und einführen wollte, kurz
zuvor von einem Auto angefahren wurde und erheblich verletzt im Spital
liegt.
Rolf Hermanns lustvoller, leichter und doch so präziser
Umgang mit seiner Sprache begeisterte und machte den Abend – neben den
Geschichten, die einen ein ums andere Mal erstaunen liessen – zu einem
ganz besonderen Erlebnis.
(Rolf Spriessler, RZ 24. 3. 2017)
Gabrielle Alioth (Dienstag, 14. Februar
2017, Einführung Wolfgang Borlik) stellt ihren Jüngsten Roman Die
entwendete Handschrift vor. Es geht darin um zwei Basler Historiker, die
beide das Leben und Wirken des byzantinischen Diplomaten und Humanisten
Chrysoloras (gest. 1415) erforschen – und zu sehr unterschiedlichen
Resultaten kommen: Richard Merak, Sohn einer Familie aus dem "Daig",
idealisiert ihn, Hans Peterson entdeckt fragwürdige Seiten. Aus der
anfänglichen Freundschaft wird bittere Rivalität. Beide sterben kurz
hintereinander unter ungeklärten Umständen. Zentralfigur ist Meraks
geschiedene Frau Laura, die – ebenso wie Peterson – von dem angesehenen
Herrn Professor schändlich ausgenützt worden ist. Sie stand denn auch im
Mittelpunkt der sorgfältig gestalteten, immer wieder durch
aufschlussreiche Zwischenbemerkungen über die Entstehung des Buches und
die dafür notwendigen Recherchen unterbrochenen Lesung.
Geschickt verwebt Gabrielle Alioth diese verschiedenen
Motivfäden: Zum einen zeichnet sie ein scharfes Bild der noblen Basler
Gesellschaft … zum anderen erzählt sie … eine Geschichte über Trennung
und Wiedersehen, über Liebe, Ehe und Tod.
(Roswitha Frey, Badische Zeitung, 16. 2. 2017)
Elisabeth Schrom (Dienstag,
17. Januar 2017 im Kellertheater, Moderation Katja Fusek) liest drei
längere Passagen aus ihrer Erzählung Herbertgeschichten, Texte, die auf
ebenso unaufgeregte wie eindringliche Weise von der Lebenssituation
eines älteren, alleinstehenden Mannes (Herbert) und der seines
verheirateten Freundes Richard sprechen. Der Humor, mit dem Schrom diese
beiden Männer und drei weitere (Frauen-)Figuren zeichnet, ist nicht
unbedingt freundlich, bestimmt nicht harmlos-gemütlich, aber auch
niemals verletzend oder überheblich. Dies zusammen mit einem sicheren
Gespür für stimmige Dialoge hat sicher zum Erfolg des Buches und der
Lesung beigetragen – und letztes Jahr dazu, dass ein im Stil verwandter
Text der Autorin beim Kurzgeschichte-Wettbewerb beide Preise gewann.
In ihren "Herbertgeschichten" … macht Elisabeth Schrom das Unspektakuläre zum Ereignis. […] Das berührt und kommt an.
(Rolf Spriessler, RZ 20. 1. 2017)