Rückschau 2023


Pierre Kretz (19. Januar im Kaleidoskop, Moderation Nicole Hausammann) liest Passagen aus seinem neuen Monolog "Ich wart uf de Theo": 

Sepp, ein 80jähriger Elsässer, Wartet an einem Novemberabend auf seinen Grossneffen Theo, der ihn mit dem Auto nach Hause fahren soll. Er sitzt mit schweren Einkäufen auf einer Bank vor dem Supermarkt. Wenn ihm die Zeit lang wird, versinkt er in Erinnerungen an sein Leben. Er verliert sich in Gedanken an die Veränderungen, die das Elsass in den vergangenen 60 Jahren durchgemacht hat, denkt aber auch an fröhliche und traurige Erlebnisse, die seine Gefühlswelt bestimmen.

Pierre Kretz, Jurist und Laienschauspieler, gestaltet seinen Text – besonders auch die darin eingeschobenen Anekdoten – ausserordentlich lebhaft und erntet bei dem ungewöhnlich grossen Publikum dankbaren Applaus.

 

Kretz inszeniert seine Lesung … lässt seine Protagonisten reden, die abwechselnd elsässisch oder französisch babbeln … (Rudolf Schenker in der Elsass-Gazette 159)

Beinahe unheimlich könnte es sein, wie lebendig und 100-prozentig echt Kretz seinen Protagonisten auf der kleinen Bühne erscheinen lässt – wäre dieser nicht so liebenswert. (Michèle Faller in der RZ vom 27. Januar 2023).

 

Iris Wolff (16. Februar, Kellertheater, Moderation Armin Zwerger) liest aus ihrem neune Roman «Unschärfe der Welt», der in lebendigen Episoden (und aus sieben ! verschiedenen Perspektiven) vom Leben und von der Flucht eines jungen Pastorenpaares und des Sohnes Samuel aus der brutalen Ceaucescu-Diktatur in Rumänien erzählt. „Heimat ist kein Ort, aus dem man vertrieben werden kann“, sagt die im Banat geborene, aber schon in jungen Jahren nach Süddeutschland ausgewanderte Schriftstellerin.

 

Mit Oz (dem Freund der Hauptfigur Samuel) lässt Wolff ein Stück zeitgenössischer Geschichte durchschimmern. Die damalige Diktatur in Rumänien mit allem, was dazugehörte – Verachtung, Flucht, Traumata – sind im entsprechenden Kapitel sehr präsent. (Nathalie Reichel, RZ vom 24. 2. 23)

 

Armin Zwerger (14. März, Kellertheater, Moderation Valentin Herzog) stellt seinen eben erschienenen Roman "Basler Blutgericht" vor, der auf ungemein anschauliche und lebendige Weise von vier Männern erzählt, die während der Hunger- und Krisenjahre am Ende der Napoleonischen Herrschaft (1814/15) in den Verdacht geraten, für zahlreiche Einbrüche und Raubüberfälle verantwortlich zu sein. Nach einem durch Folter erzwungenen Geständnis werden drei von ihnen als abschreckendes Exempel hingerichtet.

 

Was zwangsläufig ein trauriges Ende nehmen muss, ist keineswegs einfach eine trostlose Tragödie, sondern in erster Linie ein einfühlungsvoll und nicht ohne Schalk erzähltes, hoch authentisches und mit zahlreichen historischen Figuren und verbrieften Fakten verwobenes Sittengemälde der Zeit zwischen 1796 und 1819. (Rolf Spriessler, RZ vom 17. 3. 2023)

 

Franco Supino (20. April 2023, Gartensaal, Moderation Wolfgang Bortlik) stellt seinen neuen Roman "Spurlos in Neapel" (Rotpunktverlag) vor und liest von seinen persönlichen Erfahrung handelnde Passagen. Der Ich-Erzähler des Romans reist immer wieder in das von einem Erdbeben
zerstörte Heimatdorf seiner Eltern und kommt dabeI in Kontakt mit der allgegenwärtigen
neapolitanischen Camorra. Halb abgestossen, halb fasziniert beginnt er nachzuforschen, vor
allem über Antonio, genannt Nirone, das dunkelhäutige Mitglied eines grossen Camorra-Clans. Eine fremde, gewalttätige Welt tut sich auf, in der die Mächtigen nicht mit den Banknoten bezahlen, die ihnen bündelweise aus der Tasche hängen, sondern mit "Dienstleistungen" – oft auf Kosten Dritter, etwa des Erzählers, dem der Nonno die halbe Schokolade wegnimmt, um sie dem Briefträger zu schenken.

 

Allmählich taucht man als Zuhörer in die chaotische, legere wie strenge, lustige wie auch traurige und zuweilen auch schonungslos brutale Welt Neapels ein, hört von den schönen, stolzen, pompösen Seiten und von den verarmten Vororten, sieht vor augeb eine traditionelle, liebevolle Familie und taucht ein in die Camorra … (Rolf Spriessler, RZ vom 28. April 2023)

 

Hanna Mittelstädt: "Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens"(9. 5. 23, Kellertheater, Moderation Wolfgang Bortlik). Die Gründerin des Hamburger Nautilus-Verlags erzählt anschaulich von den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in der Nach-68-Zeit, von ihrem menschlichen Umfeld (Lutz Schulenburg, ihr Partner) und von den ersten Aktivitäten – und Schwierigkeiten – des jetzt fünfzigjährigen Verlags. Bei der Bewältigung letzterer hat auch Wolfgang Bortlik tatkräftig mitgeholfen.

Mittelstädt und ihre Genossen [unternahmen] grosse Projekte wie die Herausgabe eines Bandes mit Bildern und Texten des berüchtigten Provokateurs Francis Picabia oder eine vierzehnbändige Gesamtausgabe des "Roten Kämpfers" Franz Jung. (Valentin Herzog, Riehener Zeitung vom 19. Mai 2023)

 

 

Bernhardt Chiquet (31. August im Kellertheater, Moderation Katja Fusek) liest zur Saisoneröffnung kurze, aber sehr eindrucksvolle Passagen aus seinem eben erschienenen Roman "Nach Manhattan". Es ist die Geschichte mehrerer Mitglieder seiner Familie, die vor dem 1. Weltkrieg in die USA auswanderten, wo sie u. a. als Butler für John D. Rockefeller oder als Kindermädchen einer anderen angesehenen Familie arbeiteten. In der anschliessenden Diskussion mit dem das Kellertheater bis zum letzten Platz füllenden Publikum erklärte der bisher vor allem als Konzeptkünstler bekannte Autor, er sei beim Schreiben ähnlich vorgegangen wie bei einem seiner Konzepte; er habe anfangs einfach "ins Blaue geschrieben", habe dann immer mehr Dokumente gefunden und so seinem Buch historische Genauigkeit verleihen können.

Im Lauf der Lesung wurde klar: Bernhard Chiquet legt Wert auf klare und detailgetreue Beschreibung von Gefühlen, Objekten und Situationen … Dadurch wirken die Schilderungen unglaublich authentisch, auch wenn sie es in Wirklichkeit nicht immer sind. (Nathalie Reichel, RZ, 8. 9. 2023)

 

 

Judith Stadlin (19. September, Kellertheater, Kaleidoskop, Moderation Nicole Hausammann) liest aus ihrem neuen Buch "Ein Quantum Toast" und früheren Werken. Ihre bald nur aus wenigen Sätzen bestehenden, bald auch mal längeren Texte kreisen in kabarettistischer Manier um zwischenmenschliche Beziehungen und ganz besonders um Sprache: Mundart und Schriftdeutsch, Schimpfwörter und Lauteigentümlichkeiten ("Chuchichästli). Ein typischer Titel: "Die Schweizerlacher".

Neben erzählten Witzen und absurden Situationen lieferte Judith Stadlinn auch Stoff zum Nachdenken. Zum Beispiel mit ihrer Geschichte über Erziehung – «Fäderläckle». Wenn sie sage, die Toleranz sei geschwunden,dann denkesie zumBeispielanGewalt. Da herrsche heutzutage Nulltoleranz …  (Rolf Spriessler, RZ, 22.9. 23)

 

 

Krimi-Abend mit Barbara Saladin, Raphael Zehnder und Wolfgang Bortlik (der zugleich als Moderator fungiert – am 19. Oktober im Kellertheater): Wolfgang Bortlik fantasiert mit der ihm eigenen trockenen Ironie über alle möglichen Verbrechen, die im friedlichen Grünen Dorf Riehen passieren könnten.(Gefesselt lauschte das Publikum …) Barbara Saladin erzählt von einem fragwürdigen Landhandel im Baselbiet, der daran scheitert, dass die Sekretärin eines korrupten Gemeindebeamten das Geländer eines Aussichtsturms lockergeschraubt hat, so dass dieser Beamte und der potenzielle Käufer in ---den Tod stürzen.(… zog das Publikum mit ihren humorvollen Geschichten in den Bann.) Raphael Zehnder schliesslich lässt ein modernes, relativ kleines und weiches Gummigeschoss zu Wort kommen, das sich nach einem Polizeieinsatz gegen eine Demo noch genau erinnert, wie es auf Befehl aus der Büchse eines Polizisten flog und wen es alles gesehen, berührt hat, bevor es am Strassenrand liegenblieb.(Den unterhaltsam geschriebenen Kurzkrimi präsentierte der Autor mit … schauspielerischem Talent auf der Bühne.)

Zitate aus dem Lesungsbericht von Sara Wild, RZ, 27. 10. 23

 

Denise Buser (9. November, Kellertheater, Moderation Valentin Herzog) stellt in ihrem eben bei Zytglogge erschienenen Buch „Dichten gegen das Vergessen“ zwölf bedeutende Lyrikerinnen aus zwei Jahrtausenden vor. An der sehr gut besuchten ARENA-Veranstaltung liest sie aus den Kapiteln über die Baselbieterin Helene Bossert, die von den Nazis ermordete Gertrud Kolmar und die provenzalischen Trobairitz Beatriz de Dia. Zwischendurch gibt es Gespräche über ihre Arbeitsweise - und Gedichte der behandelten Autorinnen.
Die Lesung findet ein äusserst positives Echo - nach einer halben Stunde ist der überaus reich bestückte Büchertisch bereits restlos leergeräumt. (RZ, 17. 11. 23)

 

 

Hans Platzgumer (30. November, Kellertheater, Moderation Wolfgang Bortlik). Acht Jahre hat der österreichische Schriftsteller und Musiker Hans Platzgumer an seinem Roman «Grosses Spiel» (Zolnay) gearbeitet. Er zeigt das Reich des Tennô in einem Moment, in dem die gottähnliche Macht des Kaisers und seines Staates erste Risse bekommt: 1923 regiert der nur für Poesie und Ikebana sich interessierende Kaiser Yoshihito seit elf Jahren. Im Volk regt sich hier und da erster Widerstand anarchistischer Gruppen. Die Geheimpolizei, verkörpert durch den bedingungslos kaisertreuen Offizier Amakasu, unterdrückt jede kritische Regung mit brutaler Gewalt.

«Bedingungslos kaisertreu» ist dieser Amakasu zweifellos in seinen eigenen Augen und in denen seiner Umwelt. Der Anfang des Romans, den Platzgumer nach Wolfgang Bortliks kenntnisreicher Einführung vorlas, zeigt freilich ein leicht differenziertes Bild: Eines Tages steht Amakasu mit seinen Kameraden stramm vor der Tribüne, auf der Yoshihito eine Geburtstagsrede halten soll. «Es ist ein erhebendes Gefühl, Baustein dieser Herrlichkeit zu sein.» Doch zugleich erfasst «eine düstere Ahnung». Denn der Tennô erscheint erst mit fünf Minuten Verspätung am Rednerpult und liest seine Rede irgendwie fahrig vor. Damit ist ein «Urvertrauen …erschüttert worden».

Im weiteren Verlauf der Geschichte werden dann der Anarchist Ôsugi und seine Fraum die Feministin Itô, in den Mittelpunkt treten. Das darf man in dem brillant geschriebenen Roman selber lesen.